Inselnovelle

Leseprobe 

Am nächsten Morgen klopfte Samantha an meine Tür. Es war ihr gelungen, ein Boot zu chartern, aber allein wollte sie die Fahrt nicht wagen, und so überredete sie mich, mit ihr zu kommen.
Wir gingen das Westufer der Insel entlang, so wie ich es gestern getan hatte, erreichten die Bar und trafen am Anleger den Mann, der uns fahren würde. Samantha sprach kurz mit ihm, und Augenblicke später saßen wir bereits in einem kleinen Motorboot, das uns über den Nil bringen sollte. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Das Ufer kam schnell näher.
„Was hast du mit ihm abgemacht?“, fragte ich Samantha.
„Er wird warten und uns wieder zurückbringen.“
„Bist du sicher?“
„Ich vertraue ihm.“
„Sonst müssen wir schwimmen.“
Samantha zuckte mit den Schultern, so, als wäre ihr das egal.
Ich stellte mir vor, was in dem Mann vorging, wenn er einem Paradiesvogel wie Samantha begegnete. Die Menschen auf der Insel mochten Touristen gewöhnt sein, doch Samantha war in ihrem Aussehen eine Herausforderung. In diesem Land gab es recht eindeutige Konventionen, besonders hinsichtlich dessen, was eine Frau in der Öffentlichkeit tun durfte und was nicht, wie sie sich kleiden durfte und wie nicht. Ich hatte auf meiner Reise mehrfach erlebt, dass Touristinnen, die das Maß des Erträglichen überschritten hatten, von Einheimischen angegangen worden waren. Im Zentrum Kairos wagten viele Frauen, sich westlich zu kleiden, aber außerhalb der Großstadt schien die Zeit stehen geblieben zu sein.
Was immer ihm durch den Kopf ging, der Mann ließ sich nichts anmerken. Er fuhr auf eine Anlegestelle zu, die terrassenförmig gestaltet war. Stufen führten hinauf zur Uferpromenade. Üppige Bougainvillea-Büsche schmückten den Mauersims, dahinter in vielfältigen geometrischen Formen geschnittene Büsche und ein großes Schild, das uns in Arabisch und Englisch willkommen hieß. Jenseits der Promenade schien uns ein tropischer Urwald zu erwarten. Wir stiegen aus dem Boot, gingen die Stufen hinauf und standen bald inmitten der botanischen Pracht.
„Palmen. Unendlich viele Palmen. Mehr als auf Jazirat Aswan“, stellte ich erstaunt fest. „Ein englischer General hat die Insel als Garten anlegen lassen. Vor mehr als hundert Jahren. Was du siehst, ist das Ergebnis eines botanischen Entwurfs. Und die Bäume, von denen du sprichst, sind nicht einfach nur Palmen.“
Auf dem Weg von der Promenade ins Innere der Insel blieb sie immer wieder stehen, um mich auf Bäume aufmerksam zu machen: Mahagonibäume, Muskatnussbäume, Trompetenbäume, Mangobäume – Samantha kannte sie alle und hörte nicht mehr auf, mir detailliert zu schildern, wo überall sie diese Gewächse bereits gesehen hatte und welche von ihnen auch auf Jazirat Aswan zu finden waren. Bald entdeckten wir eine große Karte, die Übersicht gab. Wie ich es vermutet hatte, war der Garten in quadratische Abschnitte unterteilt, und dementsprechend führten alle Wege entweder in nord-südlicher oder ost-westlicher Richtung, so dass sich eine Art Gitternetz ergab. Samantha schien sich nicht dafür zu interessieren, sondern entdeckte Blüten und Büsche wieder, die ihr allesamt bekannt waren und deren Namen sie mir nicht ohne einen gewissen Stolz immer wieder nannte. Dabei bewegte sie sich kreuz und quer durch das Gitternetz der gepflasterten Wege, bis uns der Zufall auf die andere Uferseite der Insel brachte. Auch hier gab es eine Promenade und eine halbhohe Mauer, auf die wir uns setzten. Samantha tat das im Lotussitz, mit einer Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, die mich beeindruckte. Ich blickte hinüber zum westlichen Nilufer und sah sandbedeckte Berge, die bereits ahnen ließen, dass hinter ihnen die Wüste begann. Samantha deutete auf Gebäude, die ich nur schemenhaft weiter südlich erkennen konnte.
„Dort liegen drei Klöster. Wir sollten sie ebenfalls besuchen. Aber für heute wäre das wohl zu viel.“
„Nur zur Vergewisserung“, stellte ich fest, „das, was wir hier tun, ist illegal, oder?“
Sie sah mich an.
„Offiziell dürfen wir unsere Insel nicht verlassen. Aber wir tun nichts Schlimmes. Ich habe das gestern unseren Bootsmann auch gefragt. Er hat nur vielsagend gelächelt. Und schau dich um: Niemand außer uns ist auf der Insel. Wir haben sie ganz für uns.“
Samantha blickte in die Ferne, legte den Kopf etwas zurück, um mit geschlossenen Augen die Sonne zu genießen.
Das tat sie eine ganze Weile, so als wollte sie die Wärme in ihrem Körper sammeln, um sie den Rest des Tages in sich zu tragen. Schließlich erhob sie sich, sprang von der Mauer und machte mir damit deutlich, dass sie nun bereit war, den Rest der Insel zu erkunden. In fast andächtiger Stille gingen wir unseren Weg. Niemand begegnete uns. Hin und wieder entdeckte Samantha Sträucher und Blüten, die wir noch nicht gesehen hatten, und erläuterte sie. Wir fanden einen kleinen Spielplatz, überdachte Plätze mit Bänken, die zur Rast einluden, und kamen schließlich zu einem kleinen Verwaltungsgebäude. Auch hier schien sich niemand aufzuhalten. So setzten wir uns auf eine Bank, von der aus wir auf Jazirat Aswan blicken konnten. Dort in der Ferne meinte ich unser Guesthouse zu erkennen. Ich bemerkte, dass Samantha in die gleiche Richtung sah.
„Vor ein paar Tagen habe ich dich gefragt, was dich hierher verschlagen hat. Erinnerst du dich?“
„Ja, aber das ist eine seltsame Geschichte.“
„Magst du sie erzählen?“
„Ich weiß nicht, ob du sie verstehst.“
Sie schien einen Moment zu überlegen, ob es gut sei, das zu tun. Dann sah sie auf das Wasser.
„Ich versuch´s mit der kurzen Variante“, stellte sie fest. „Ich habe in Melbourne gelebt. Ein braves Mädchen. Mit besten Schulnoten. Nach dem Abschluss begann ich eine Ausbildung in der Finanzbehörde. Das schien eine gute, sichere Sache zu sein. Aber ich wurde darüber krank. Sehr krank.“
Wieder dachte sie kurz nach, bevor sie weitersprach.
„Es würde lange dauern, dir meine Krankheit zu erklären. Vielleicht würdest du sie auch dann nicht verstehen. Die meisten haben sie nicht verstanden. Ich versuchte dann eine Weile, so weiterzuleben, wie bisher, aber es ging nicht. Es gelang mir nicht, in ein geradliniges Leben zurückzukehren. Ich wusste nur: Ich wollte glücklich sein, frei sein. Warum hatte mir diese Dunkelheit alle Freude genommen? Warum traf sie ausgerechnet mich, die ich doch nichts Böses getan hatte? Ich wollte doch nur glücklich sein. Ist das zu viel verlangt? Warum dann diese Dunkelheit, die mich Tag für Tag aus unerwarteten Anlässen überfiel?
Mir wurde klar: Ich musste das durchbrechen. Dann sagte ich meinen Eltern, ich würde eine Reise machen. Und so kam ich nach Europa. Diese Reise wurde länger als ursprünglich gedacht, aber sie war für mich heilsamer als jedes Medikament. Ich bin nun frei von meinen Ängsten. Na ja, also weitgehend. Ich könnte nun Neues beginnen. Aber so ganz ist es noch nicht so weit.“
„Du hast gesagt, hier sei es paradiesisch.“
„Ja, das ist es.“
„Hast du dein Ziel gefunden.“
Sie zögerte.
„Ich weiß nicht. Vielleicht werden wir ja aus dem Paradies vertrieben.“
Samantha schwieg, und auch ich fand es angemessen, nichts sagen, nichts zu fragen und auf nichtssagende Worte zu verzichten.
So saßen wir eine Weile still nebeneinander.
„Hast du das verstanden?“, fragte sie schließlich.
Ich nickte. „Ein wenig.“
„Gut“, stellte sie fest. „Lass uns weitergehen.“
Auf dem Weg kreuz und quer über die Insel der Pflanzen zurück zum Boot sprachen wir von nun an nur noch über das, was wir sahen.